Palimpsest
Temporäre Installation
Edding auf Glas
Stadtbücherei Heidelberg
Jubiläumsausstellung 150 Jahre Heidelberger Kunstverein
im Sommer 2019

Öffentliche Räume sind von großer Bedeutung für das Gemeinschaftsleben einer Stadt. Die Stadtbücherei Heidelberg ist solch‘ ein öffentlicher Raum. Sie steht allen Benutzern offen, vermittelt allgemeinen Zugang zu Informationen und stellt damit die Grundlage für jede Form der Wissensproduktion. Im modernen, technologischen Zeitalter sehen sich die Bibliotheken mit anderen Formen der Informationsverschaffung und Wissensproduktion konfrontiert. Dabei bestehen Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten.
In diesem Fragenkreis bewegt sich die temporäre Installation der Künstlerin Eva Gentner. Über die Länge der Südfenster der Bibliothek (47qm) hat sie den knapp 28.000 Zeichen umfassenden html-Quellcode der Wikipediaseite zum Artikel „Palimpsest“ handschriftlich auf die Glasscheiben geschrieben. Ein Palimpsest bezeichnet ein Schriftstück, dessen ursprünglicher Text – beispielsweise auf Grund von Mangel an Schreib- material – abgeschabt und anschließend mit einem neuen Text überschrieben wurde. Der alte Text scheint jedoch stellenweise durch den darübergeschriebenen Text hindurch und kann mit mehr oder weniger Mühe rekonstruiert werden.
Wikipedia ähnelt in seinem Aufbau einem „Palimpsest der Gegenwart“*, eine Art vernetzter Hypertext verschiedenster Autoren, durchscheinender Einzelteile und stetiger Überschreibungen. Der kryptische knapp 28.000 Zeichen umfassende Quellcode der Webseite www.de.wikipedia.org/wiki/Palimpsest stellt dem Bücherbestand der Bibliothek die fragile Programmierung Wikipedia’s und deren Funktionsweise der Text- und damit Wahrheitserzeugung gegenüber.
Welche Rolle spielt der Autor? Wie wird ‚überholtes‘ Wissen archiviert und wie kann man sich in Zukunft kritisch damit auseinandersetzen? Wie funktioniert hier Dialektik? Und welche Anforderungen erfüllt Wikipedia und welche nicht?
[*zitiert Nathalie Mederake]
Text: Ursula Schöndeling

English version Public spaces are of great importance for the community life of a city. The Heidelberg City Library is such a public space. It is open to all users, provides access to information and thus provides the basis for all forms of knowledge production. In the modern, technological age, libraries are confronted with other forms of information acquisition and knowledge production. There are differences, but also similarities.
The temporary installation by the artist Eva Gentner moves within this field of questions. Over the length of the library‘s south windows (47 square metres), she has handwritten the source code of the Wikipedia page for the article ‚Palimpsest‘, which comprises almost 28,000 characters, on the glass panes. A palimpsest means a document whose original text has been scraped off - for example due to lack of writing material - and then overwritten with a new text. The old text, however, shines here and there through the text written over it and can be reconstructed with more or less effort. Wikipedia resembles in its structure a „ modern palimpsest „, a kind of networked hypertext by various authors, with translucent individual parts and constant overwriting. The cryptic, almost 28,000 characterssource code of the website www.de.wikipedia.org/wiki/Palimpsest contrasts the library‘s book stock with the fragile programming of Wikipedia and its mode of operation for generating text and thus truth. What role does the author play? How to archive ‚outdated‘ knowledge and how to deal with it critically in the future? How does dialectics work here? And which requirements does Wikipedia fulfil and which not?
(*quotes Nathalie Mederake)
Text: Ursula Schöndeling